Gefälschtes Italien: Fakes und Phantasmen in Kunst, Literatur, Philosophie und Geschichte. 5. Italientag der Universität Kassel

Gefälschtes Italien: Fakes und Phantasmen in Kunst, Literatur, Philosophie und Geschichte. 5. Italientag der Universität Kassel

Organisatoren
Universität Kassel
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.06.2019 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Leo Felder, Universität Kassel

Italien! Wer denkt dabei nicht sehnsüchtig an idyllische Landschaften, berüchtigte Mafiaclans und die Lebensfreude der Italiener? Doch stimmt dieses Bild mit der Realität überein? Viele Faktoren spielen eine Rolle bei der Wahrnehmung und Darstellung anderer Länder und eigener wie fremder Gesellschaften. Die Geschichte und das Bild Italiens werden – absichtlich oder unabsichtlich – verfälscht, um eigene Fantasien erweitert und auf außergewöhnliche und hervorstechende Details reduziert. Dazu präsentierten deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim fünften Italientag der Universität Kassel fünf anregende Vorträge, die die Thematik aus historischer, philosophischer, literaturwissenschaftlicher, kunst- und designgeschichtlicher Perspektive beleuchteten.

CLAUDIA ALRAUM (Erlangen) eröffnete den Italientag mit einem Vortrag über verschiedene Kirchengründungen durch Apostel gemäß hagiografischen und ikonografischen Quellen. Sie ging der Frage nach, inwieweit es sich hierbei um historische Realitäten oder spätere Konstrukte handele. Nach einer kurzen Darstellung der Petrusgeschichte und des Martyriums des Johannes zeigte Alraum anhand einiger Beispiele aus Italien, dass der Bezug zahlreicher Bistümer auf Apostel oft erst sehr viel später erfolgte und Hagiografie wie Ikonografie keineswegs eine historische Realität abbildeten. Überdies sei zu betonen, dass es sich nicht um ein auf Italien begrenztes, sondern um ein gesamteuropäisches Konzept handele. Diese Ursprungserzählungen dienten der Legitimation, denn sie erlaubten es, eine direkte Linie von Jesus über Petrus und die Apostel oder einen von Petrus ernannten Bischof bis zum aktuellen Bischof zu ziehen. Eine solche Tradition sicherte dem Bischof eine Vorrangstellung gegenüber Amtskollegen, die sich nicht auf Petrus beziehen konnten. Alraum deutete darauf hin, dass die Gründungslegenden zugleich den Anspruch der Päpste auf Deutungshoheit bestärkten, stand der Heilige Stuhl doch in direkter Nachfolgerschaft Petri und beanspruchte die reine Lehre für sich, während andere Bischöfe als seine Schüler anzusehen waren.

MARTINA SITT (Kassel) warf anhand eines Salvator mundi die Frage nach Fälschungen italienischer Meister auf dem Kunstmarkt auf. Das Gemälde wurde 2017 für 450,3 Millionen US-Dollar vom Auktionshaus Christie’s als Leonardo verkauft und ist damit das bisher teuerste versteigerte Gemälde. Vor allem zwei Bieter hatten den Preis nach oben getrieben, bei denen es sich um Käufer aus dem Umfeld der saudi-arabischen und abu-dhabischen Königshäuser handelte. Daher ranken sich verschiedene Theorien um den Verkauf und es kam die Frage auf, ob es sich beim Salvator mundi um eine Fälschung handele, was bislang nicht eindeutig geklärt ist. In Salvator mundi-Darstellungen schaut Jesus den Betrachter direkt an, die rechte Hand und der Zeige- und Mittelfinger sind zum Segenswunsch erhoben. In der linken Hand hält er in dieser Version eine Glaskugel statt eines Globus‘. Das von anderen Fachleuten vorgebrachte Argument, das keinem Fälscher ein so offensichtlicher Fehler unterlaufen würde, sei laut Sitt allein noch wenig schlüssig. Zwar wird der Salvator mundi nicht in der Vasari-Biografie Leonardo da Vincis erwähnt und anders als damals üblich entstand das Gemälde nicht auf Pappelholz, sondern auf Walnussholz, aber sowohl mit dendrochronologischen Untersuchungen als auch mit Farbanalysen ist eine Fälschung keineswegs einfach auszuschließen. Sitt betonte, dass es bei dem Verkauf deshalb weniger um das Gemälde selbst gegangen sei, sondern vielmehr darum, ein exklusives Gefühl zu verkaufen, das Leonardos Italien, das Italien der Renaissance vermarkte. Diesbezüglich sei es weniger wichtig, ob es sich um eine Fälschung handele oder nicht, denn auch bei einer Fälschung stehe jenes Gefühl von der Bedeutung Italiens im Vordergrund.

Im Bezug zum italienischen Philosophen Giordano Bruno stellte ANGELIKA BÖNKER-VALLON (Kassel) die Entstehung und Komplexität des Begriffs Italianità dar. Der Begriff Italianità beschreibt eine Abgrenzung Italiens vom Rest der Welt und bezieht sich auf verschiedenste gesellschaftliche und historische Aspekte, unter anderem den sehr negativ konnotierten Bezug zum italienischen Faschismus. Hierbei bezieht sich Italianità in erster Linie auf die Betonung einer italienischen Kultur und die Ablehnung und Unterdrückung anderer Kulturen. Der Begriff entwickelte sich in der italienischen Vereinigungsbewegung, dem Risorgimento. Bönker-Vallon betonte den Konflikt verschiedener Strömungen innerhalb des Risorgimento, insbesondere den Zwiespalt zwischen einer kirchlichen Partei, die Italien als Kirchenstaat vereinigen wollte, und antiklerikalen Gruppierungen, die eine von der katholischen Kirche unabhängige Einigung erstrebten. Sie formulierte unter Berücksichtigung des Italientagthemas die Frage, inwieweit es sich bei der kollektiven Identität der Italiener um ein Konstrukt handele. Als Bezugspunkt der Unabhängigkeitsbewegung stellte Bönker-Vallon den Dominikanermönch und Gelehrten Giordano Bruno vor. Bruno könne als Vorläufer westlicher Philosophen wie Descartes und Spinoza gesehen werden und wurde im Risorgimento als antiklerikaler Philosoph interpretiert, was nicht zuletzt mit seiner Verurteilung und Hinrichtung durch die Inquisition 1600 auf dem Campo de‘ Fiori in Rom in Verbindung zu bringen ist. Gegen den Willen des Papstes wurde ebendort 1898 ein Bruno gewidmetes Denkmal eingeweiht. Bönker-Vallon veranschaulichte, dass die laizistischen Kreise des Risorgimento den Begriff der Italianità durch den Bezug zu Bruno als italienische Nationalidentität und als Erinnerungskultur interpretierten.

BRIGITTE SÖLCH (Stuttgart) veranschaulichte in ihrem Vortrag eingangs die Vorbildfunktion italienischer Piazze für die Gestaltung der Shoppingmall „Atrium Weimar“, die in der 1936 begonnenen, aber als solche nie fertiggestellten „Halle der Volksgemeinschaft“ angesiedelt ist. Diese Nachahmung soll den Einkaufenden das Gefühl vermitteln, sich in einem exklusiven Ambiente zu befinden. Vor allem Venedig fungiert dabei als Vorbild. Sölch unterschied zwischen den Begriffen Simulacrum und Palimpsest: Während es sich beim Simulacrum um eine bloße Imitation italienischer Plätze oder gar ganzer Städte handele, wird beim Palimpsest die eigene lokale Kultur und Geschichte durch Topoi des fernen Italiens überschrieben. Sölch zufolge stehe nicht die tatsächliche Darstellung Italiens im Mittelpunkt, sondern das Gefühl Italiens, das wiederum vom Realitätsgrad menschlicher Wahrnehmung und Imagination abhängen würde. Auf dem 8. Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM) 1951 in England wurde die Rehumanisierung der Innenstädte und ein Recht auf Fußgängerzonen vorgeschlagen, als deren ideelle Verkörperung der Markusplatz in Venedig diente. Sölch zufolge ist der Tourismus ein wichtiger Stützpfeiler und belebender Faktor der Innenstädte und die Piazze sind als zentrale Bezugspunkte anzusehen. Daher unterliegen die Architektur und das Design den Anforderungen des Tourismus und der Gastronomie, um ein möglichst angenehmes Einkauferlebnis zu erreichen. Anhand einiger Beispiele von Simulacra, darunter der Miniaturpark in Hamburg, der Themenpark Mini-Europe in Brüssel und ein Themenpark in Rimini sowie einige Themenhotels in Las Vegas, Antalya und Thailand zeigte Sölch, dass solche Simulacra primär Venedig und den Markusplatz nachahmten. Oftmals übernahmen die Imitationen nicht alle Aspekte ihres Vorbilds; sie bildeten mitunter nur den Markusdom ab oder rekurrierten mithilfe von Darstellungen des venezianischen Kanalsystems und seiner Gondeln auf die Stadt. Beispielhaft dafür stehe auch die Costa Venezia, ein für den chinesischen Markt gebautes Kreuzfahrtschiff des italienischen Unternehmens Costa Crociere, die mit einem Venedig nachempfundenen Kanalsystem und venezianischen Themenrestaurants das Gefühl der Serenissima an Bord vermitteln sollte. Auch hier handele es sich, so Sölch, keineswegs um eine Nachbildung der Realität, sondern lediglich um eine Imitation ausgewählter, stark eingegrenzter, vereinfachter und distinktiver Aspekte Venedigs und seiner Geschichte, hinter denen andere Elemente der italienischen Architekturgeschichte zurückträten.

NIKOLA ROSSBACH (Kassel), deren Manuskript HANS GROTE verlas, beleuchtete den Einfluss von Literatur auf unsere Wahrnehmung und Vorstellung Italiens. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, zu denen unter anderem die Reisebeschreibungen Goethes gehören, beschreiben Italien als das Paradies auf Erden. Hervorgehoben wird die Andersartigkeit der italienischen Kultur, wie sie sich auch in modernen Büchern wiederfinden lässt, beispielsweise in Maria, ihm schmeckts nicht von Jan Weiler. Bei diesem „othering“ geht es Roßbach zufolge nicht um die Realität in Italien. Vielmehr bietet sich die Möglichkeit, eigene Vorstellungen und Wünsche in das Bild Italiens hineinzuinterpretieren. Roßbach verdeutlichte, dass Literatur sich einerseits solcher Mythen und Identitätsvorstellungen bediene und sie andererseits eben dadurch festige. Mit Blick auf die Frage, ob Italien wirklich anders sei, betonte sie den Begriff des kulturellen Pluralismus: Während eigene Ideen und Lösungen von ihren Urhebern grundsätzlich als normal angesehen werden, gelten andere als exotisch. Die Vielfalt in den Kulturen selbst wird dabei oft übersehen. Wenn neues Wissen über das Objekt hinzukommt, betrachten die Rezipienten dies entweder als Bestätigung ihrer Vorstellungen oder integrieren es in die von ihnen entworfenen Alteritätsprinzipien. Dies zeigte Roßbach zum einen am Beispiel Luthers, dessen Italienbild den Mythos Italien zwar störte, nicht aber zerstörte. Es handelt sich auch hier um eine Alteritätskonstruktion Italiens, wenn auch im negativen Sinn. Zum anderen führte auch die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Am Silser- und Gardasee von Johanna Spyri oder Venezianische Novellen von Franz von Gaudy, nicht zu einer Zerstörung des Italien-Mythos, sondern vielmehr zu einer „Nichtmarkierung Italiens“.

Insgesamt zeigten die Referentinnen und Referenten anhand facettenreicher Beispiele, dass die Wahrnehmung Italiens stark von mehr oder minder konstruierten Vorstellungen sowie von unterschiedlichsten Intentionen und Vorurteilen geprägt ist. Hieraus resultieren zahlreiche Diskrepanzen, anhand derer sich die Widersprüche und Brüche in der Wahrnehmung Italiens beobachten lassen. Ziel verschiedenster Darstellungen mit Italien-Bezug war und ist es, ein Gefühl italienischer Lebensart zu vermitteln und damit die Erwartungen und Wünsche der Konsumenten in Kunst, Kultur, Literatur und Tourismus zu erfüllen. Die Vorträge vermittelten spannende und vielfältige Eindrücke von der Wahrnehmung und Darstellung Italiens in Geschichte und Gegenwart und lieferten neue Ansatzpunkte für eine weitere interdisziplinäre Untersuchung der Thematik.

Konferenzübersicht:

Jan-Henrik Witthaus (Kassel)/ Ingrid Baumgärtner (Kassel): Begrüßung und Moderation

Claudia Alraum (Erlangen): Zur Erfindung apostolischer Traditionslinien: Gründungslegenden und deren Verbreitung

Jan-Henrik Witthaus (Kassel): Moderation

Martina Sitt (Kassel): Alles Leonardo? Das Gefühl von echt italienisch erzeugen

Angelika Bönker-Vallon (Kassel): Wahrheit oder Konstruktion: Philosophie im Dienst der Italianità

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Moderation

Brigitte Sölch (Stuttgart): Simulacrum und Palimpsest: Italien und die Produktion von (T)Raumbildern

Nikola Roßbach (Kassel): Italien ist anders. Wirklich? Fragen an die deutschsprachige Italienliteratur


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